Mittwoch, 4. April 2018

"Sklaverei in der Bibel": Levitikus 25

Lev 25,44-46:
Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben. Auch von den Kindern der Halbbürger, die bei euch leben, von den Kindern, die sie in eurem Land gezeugt haben, könnt ihr Sklaven erwerben. Sie sollen euer Eigentum sein, und ihr dürft sie euren Söhnen vererben, damit diese sie als dauerndes Eigentum besitzen, ihr sollt sie als Sklaven haben. Aber was eure Brüder, die Israeliten, angeht, so soll keiner über den anderen mit Gewalt herrschen.

Ich verstehe diese Passage zunächst einmal als Auszug aus einem größeren Text, und ich frage folglich: Aus welchem Text ist diese Passage entnommen? In welchem Kontext steht diese Passage? Im Grunde ist das das normale Prozedere, um Texte aus der menschlichen Kulturgeschichte zu verstehen. 

Und weil die Bibel eine Sammlung von Texten aus der menschlichen Kulturgeschichte beinhaltet, lässt sich dieses Vorgehen auch auf die Schriften der Bibel anwenden:

Woher stammt also diese Passage? Sie stammt aus dem Kapitel 25 des Buches Levitikus. Das Buch Levitikus wiederum steht im Zusammenhang des Pentateuch ("fünf Bücher Mose") als drittes Buch gewissermaßen in dessen Mitte. Im Pentateuch überliefert ist das verbindende Narrativ des Volkes Israel, nicht nur als Zuspruch hinsichtlich seiner gemeinsamen Identität als Volk, sondern vor allem auch als Anspruch, diese gemeinsame Identität zu leben. Das Buch Levitikus beschäftigt sich nun mit dem Zusammenleben der Teilhaber an dieser gemeinsamen Identität sowie mit der Ausrichtung der Teilhaber an dieser gemeinsamen Identität auf das Zentrum dieser gemeinsamen Identität, namentlich JHWH. Levitikus hat seinen Namen von Levi, der gemäß dem im Pentateuch überlieferten Narrativ den Stamm der Leviten begründete. Die Leviten wiederum stellen innerhalb des Volkes Israel denjenigen Stamm dar, der für den Tempeldienst zuständig ist: Sie vollziehen die kultischen Dienste, und aus ihnen gehen die Priester des Volkes Israel hervor. Das verrät uns also etwas über das Buch Levitikus: Es ist alleine schon dem Namen nach "das priesterliche Buch". Und so regelt es vornehmlich die kultischen und priesterlichen Dinge, von denen aus sich dann die Regelungen für das Volk Israel als heiliges und priesterliches Volk entfalten. Letztlich besteht das Buch Levitikus aus einer Reihe von Regelungen, die an die Priester ergehen, die diese Regelungen wiederum an das Volk Israel vermitteln sollen. Durch dieses Leben der gemeinsamen Identität als priesterliches Volk unterscheidet sich das Volk Israel schließlich (zumindest dem Selbstverständnis nach) von den anderen Völkern.

Wenn wir also das normale Prozedere zum Verstehen von Texten aus der menschlichen Kulturgeschichte anwenden, dann erkennen wir im Narrativ eine konzentrische Struktur mit JHWH in der Mitte, nach außen gefolgt von den Priestern, dann dem Volk Israel und schließlich den anderen Völkern. Vor dem Hintergrund dieser konzentrischen Struktur sind nun die einzelnen Regelungen zu lesen (ganz im Sinne des hermeneutischen Zirkels, demnach das Ganze vom Teil her und der Teil vom Ganzen her verstanden werden muss). Dabei besteht durchaus eine Spannung, die zwischen Lev 25,44 und Lev 19,18 ("Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst") ganz gut illustriert werden kann.

Wenn wir also das normale Prozedere zum Verstehen von Texten aus der menschlichen Kulturgeschichte anwenden, dann erkennen wir weiterhin, dass die Art und Weise, wie diese konzentrische Struktur kommuniziert wird, sich durchaus im Horizont der menschlichen Kulturgeschichte bewegt und wie dies die Institutionen der menschlichen Kulturgeschichte in die Kommunikation dieser konzentrischen Struktur mit einbezieht. Eine dieser Institutionen ist nun die Sklaverei. Sie wird in Levitikus zunächst einmal als gegeben hingenommen, d.h. als Erscheinung innerhalb der menschlichen Kulturgeschichte anerkannt. Dabei steht der Abschnitt Lev 25,44-46 in einer Spannung zum unmittelbar vorigen Absatz Lev 25,39-43, insofern dort die Freilassung der Sklaven gefordert wird. Mit Blick auf die konzentrische Struktur des Narrativs erschließt sich so auch die Lösung dieser Spannung: Innerhalb des Volkes Israel soll die Sklaverei nicht praktiziert werden. Es gehört, anders formuliert, also zur Identität des Volkes Israel als heiliges und priesterliches Volk, dass der Nächste nicht versklavt wird.

Es ist nun in der Tat zunächst so, dass der Nächste im Sinne einer ethnozentrischen Sichtweise lediglich der Volksgenosse ist. Die Frage ist dabei natürlich, ob eine ethnozentrische Perspektive theologisch schlüssig ist. Aus christlicher Sicht natürlich nicht, schließlich erfährt Lev 19,18 in Lk 10,25-37 eine radikale Universalisierung. Aber auch im Kontext des Pentateuch steht Levitikus ja nicht alleine: Was uns in Lev als Spannung aus kultischer Reinheit und kultischer Unreinheit begegnet, wird im darauf folgenden Buch Numeri unter der Spannung von polarem (entweder x oder y) und kontaminativem (x wird von y "angesteckt") Konzept von Heiligkeit verarbeitet. Kontaminativ gedacht kann so z.B. argumentiert werden, dass die kultische Reinheit des Volkes Israel durch eben jene kulturgeschichtliche Institution "angesteckt" oder verunreinigt wird. Womit sich die Notwendigkeit ergibt, diese Institution zu meiden, sofern umfassende kultische Reinheit das Ziel sein soll.

Und was die Frage einer ethisch-moralischen Einschätzung der Sklaverei angeht, ist Levitikus in sich zunächst auch deutlich: demnach hat Sklaverei im Heiligen keinen Platz. Die wichtige Frage zur moralisch-ethischen Bewertung der Sklaverei betrifft nun die Frage, wer denn der Nächste sei. Das wird durch die Spannung zwischen polarem und kontaminativem Konzept von Heiligkeit im Buch Numeri weitergeführt, demnach das Heilige nicht nur vom Unheiligen unterschieden (polarisiert), sondern in seiner Heiligkeit auch vermindert (kontaminiert) werden kann, wenn es mit dem Unheiligen in Berührung tritt. Konkret auf die Sklaverei bezogen lässt sich so also argumentieren, dass das Heilige - hier vor allem natürlich: das heilige Volk Israel - an derjenigen Stelle kontaminiert wird, wo dasjenige besteht, was im Heiligen keinen Platz hat. Deutlicher: Wo also Sklaverei - die im Heiligen keinen Platz hat - praktiziert wird, da wird die Heiligkeit kontaminiert. Steht nun der Ruf nach allgemeiner Heiligkeit im Raum (wie z.B. gemäß Lev 19,2), so ergibt sich freilich ein Problem. 

Ethno-zentrisch - das heißt gemäß einer Sichtweise, welche die eigene Gruppe in den Mittelpunkt der Weltanschauung stellt - lässt sich dieses Problem durch eine Trennung in in-group und out-group lösen. Soll heißen: Keine Sklaverei nach innen, wohl aber Sklaverei nach außen; schließlich ist derjenige aus der out-group kein Nächster, sondern eben ... out. Der Nächste wäre demnach der Volksgenosse, mit dem man eine gemeinsame ethnische Abstammung teilt.

Theo-zentrisch - das heißt gemäß einer Sichtweise, welche Gott in den Mittelpunkt der Weltanschauung stellt - funktioniert die vorgenannte Lösung nicht. Denn theozentrisch ist das Volk Israel nicht durch seine Abstammung heilig, sondern aufgrund seiner Erwählung durch Gott. Demnach ist der Nächste derjenige, welcher von Gott erwählt wurde. Zur Lösung des Problems gibt es theozentrisch zwei Möglichkeiten:

  • Einerseits die vollständige Absonderung des Heiligen vom Unheiligen, des Erwählten vom Nicht-Erwählten, um so das Heilige nicht einmal in die Möglichkeit einer Gefahr zu bringen, kontaminiert zu werden. Konkret also: Das eigene Volk so weit als nur möglich von den anderen Völkern abzusondern, um nicht einmal in den Hauch einer Gefahr zu geraten, irgendwie mit Sklaverei in Berührung zu kommen. So wäre im Heiligen keine Sklaverei; und was die anderen machen, interessiert nicht.
  • Andererseits steht die umgekehrte Kontamination: Wenn das Heilige vom Unheiligen kontaminiert werden kann, dann funktioniert das auch in die andere Richtung - dass nämlich das Unheilige vom Heiligen "angesteckt" werden kann. Demnach wäre jeder andere als Nächster zu behandeln, als einer, der von Gott erwählt wurde. Konkret also: Überhaupt keine Sklaverei mehr zu praktizieren, weder innerhalb des eigenen Volkes noch gegenüber anderen Völkern.

Alle drei Optionen sind - zunächst (!) einmal - mögliche Varianten der Bewertung, und in der Kulturgeschichte sind auch alle drei schon praktiziert worden. Dem Anspruch nach - zumindest wenn wir Levitikus als Text aus der Kulturgeschichte betrachten - hat gemäß Levitikus die theo-zentrische Sichtweise Vorrang,[1] und gemäß der apostolischen Tradition besitzt die umgekehrte Kontamination Vorrang vor der vollständigen Absonderung.[2] Denn im Kolosserbrief beispielsweise spricht Paulus nicht nur zu den Sklaven, sondern er richtet sein Wort auch noch an andere, so in Kol 4,1: "Ihr Herren, gebt den Sklaven, was recht und billig ist; ihr wisst, dass auch ihr im Himmel einen Herrn habt."

Das führt uns zuletzt zum Vorwurf, demnach Christen die "hässlichen und falschen Teile der Bibel ignorieren" würden. Das tun sie wie gezeigt nicht bzw. nicht notwendig - eine naive Interpretation der entsprechenden Stellen trägt schlichtweg nicht. Es scheint darum eher umgekehrt: Die Kritiker scheinen ganz gerne diejenigen Teile zu ignorieren, die nicht in ihre eigene Auslegung passen.


[1] Wir erinnern uns an den konzentrischen Aufbau: JHWH -> Priester -> Volk Israel -> andere Völker.

[2] Aber auch aus dem jüdischen Midrasch lässt sich dies ableiten, insofern dort Lev 18,30 als Anspruch, "einen Zaun um die Tora" zu ziehen, ausgelegt wird.

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