"Die Idee, dass es sich bei der Theologie um eine Wissenschaft handelt, stammt von Thomas von Aquin (1225-1274). Er sah im Glaubensbekenntnis die gleiche Rolle wie die der Axiome in der Mathematik. Sein Wissenschaftsanspruch ging auf Aristoteles zurück, der Axiome für so evident hielt, dass sie keiner weiteren Begründung mehr bedürfen."
Das ist eine eher oberflächliche Beschreibung des Sachverhalts, die zudem inhaltlich nicht ganz zutreffend erscheint. Ja, Thomas von Aquin argumentiert dafür, ob und warum die Theologie als Wissenschaft betrachtet werden könne. Allerdings ist er dabei zunächst einmal nicht der erste, so dass diese Idee mitnichten von ihm stammt: Sie findet sich, wenig überraschend, bereits bei Aristoteles, welcher die Theologie von der Mythologie abgesondert und in die Metaphysik überführt hat.
Da im Artikel leider eine Quellenangabe für die Position des Thomas fehlt, nehme ich an, es handelt sich um einen Bezug zu Quaestion 1 aus der Summe der Theologie. In Artikel 2 stellt Thomas die Frage:
utrum sacra doctrina sit scientia
- Ist die sacra doctrina eine scientia?
Gemeinhin wird das übersetzt als "Handelt es sich bei der Theologie um eine Wissenschaft?" Doch genauer betrachtet ist die Bedeutung der Worte sacra doctrina und scientia etwas anders nuanciert. Thomas‘ Wissenschaftsanspruch geht zwar auf Aristoteles zurück (scientia ist die lateinische Übersetzung der griechischen episteme) - so viel scheint im Artikel zurecht festgehalten. Aber gerade deshalb argumentiert Thomas nicht für irgendeine Axiomatik am Vorbild der Mathematik. Tatsächlich markiert der Rekurs auf (die) "Glaubensartikel" nämlich Thomas' erstes Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der sacra doctrina:
Omnis enim scientia procedit ex principiis per se notis. Sed sacra doctrina procedit ex articulis fidei, qui non sunt per se noti, cum non ab omnibus concedantur […] Non igitur sacra doctrina est scientia.
- Alle scientia geht nämlich aus Prinzipien hervor, die aus sich selbst heraus bekannt ("selbst-evident") sind. Die sacra doctrina geht jedoch aus Glaubensartikeln hervor, welche nicht aus sich selbst heraus bekannt ("selbst-evident") sind, weil sie nicht von allen anerkannt werden […] Also ist die sacra doctrina keine scientia.
Zugleich ist es natürlich höchst anachronistisch, hier von irgendwelchen "Axiomen der Mathematik" zu sprechen, deren Analogie nach Thomas die Wissenschaftlichkeit der Theologie begründe: Die Mathematik war einerseits im hohen Mittelalter nämlich noch gar keine einzelne oder eigenständige Disziplin - ihren Gegenstandsbereich teilten sich die vier Disziplinen des Quadriviums, namentlich Arithmetik, Geometrie, Musik (Harmonielehre) und Astronomie (tlw. auch "Astrologie" genannt). Andererseits war es nicht Thomas von Aquin, sondern René Descartes, der die geometrische (!) Methode zum Modell für Wissenschaftlichkeit an sich gemacht hat, während spätestens Baruch de Spinoza diese Methode dann als Grundpfeiler (s)einer Theologie eingeschlagen hat. Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaac Newton und Immanuel Kant sind dieser erkenntnistheoretischen Weichenstellung gefolgt, und in diesem Fahrwasser befindet sich schließlich die "Physiko-Theologie" z.B. eines William Paley, aus der dann der moderne Kreationismus und das Intelligent Design erwachsen. Dieser Pfad der Geistes- und Theologiegeschichte ist nun aber zu unterscheiden von dem Pfad der Scholastik, dem Thomas von Aquin zugehörig ist, und er deckt sich auch nicht mit der Scholastik nach Thomas bzw. dem Thomismus, geschweige denn mit der spezifisch katholischen oder gar der gesamten Theologie. Der Artikel schiebt Thomas also etwas Fremdes unter, und meint dann, mit der Entgegnung auf dieses Untergeschobene sei der gesamte Komplex bestritten.
Wovon Thomas tatsächlich spricht, erfährt man freilich, wenn man die Quaestion 1 seiner Summe der Theologie liest. So zeigt sich nämlich, dass die sacra doctrina einerseits nicht die gesamte Theologie meint, während sie zweitens eben nicht rein auf Glaubensartikeln fußt, sondern viel eher und in Kontrast zum klassischen aristotelischen Wissenschaftsbegriff als eine Art Vorform der historischen Wissenschaften gelesen werden kann, die sich eben mit den Quellen der Offenbarung beschäftigt und daraus ihre Grundlage bezieht.
In Artikel 1 der Quaestion 1 fragt Thomas, ob es neben der Philosophie noch einer anderen doctrina (Lehre, Unterweisung, etwas in Richtung "Lehrdisziplin") bedürfe; und als Gegenargument verweist er auf
quaedam pars philosophiae dicitur theologia, sive scientia divina
- einen gewissen Teil der Philosophie, der sich "Theologie" nennt, oder "göttliche Wissenschaft".
Soll also heißen: Eine spezifisch christliche Theologie scheint nicht notwendig, weil es bereits eine philosophische Theologie gäbe (die heutzutage unter die Bereiche Ontologie und Religionsphilosophie fällt). Als Antwort auf diesen Einwand führt Thomas den Hinweis auf unterschiedliche Methoden an, vermittels derer unterschiedliche Disziplinen ihre Erkenntnisse gewinnen. Als Beispiel hierfür wählt er den astrologus, das übersetzt sich in den heutigen Sprachgebrauch als "Astronom", und den naturalis, d.h. "Naturforscher" oder "Physiker" (Astronomie und Physik waren zu seiner Zeit nicht dasselbe), die beide darlegen würden, quod terra est rotunda - dass die Erde rund ist: Der Astronom per medium mathematicum - "mathematisch", das bedeutet durch Abstraktion von der stofflichen Welt; der Physiker hingegen mit Bezug zum Stoff selbst, also gewissermaßen konkret. In diesem Verhältnis seien nun auch die philosophische theologia und die christliche sacra doctrina zu sehen: Die Analogie zur Mathematik besteht also nach Thomas gerade nicht seitens der christlichen Theologie, sondern seitens der philosophischen Theologie (die als solche auch nicht mit Glaubensartikeln hantiert); neben dieser Disziplin muss er argumentativ erst einmal einen Raum für die sacra doctrina eröffnen.
Weiter gehend bringt Thomas im schon erwähnten Artikel 2 der selben Quaestion noch als Argument gegen die sacra doctrina ein, dass sie tractat de singularibus - sich mit Einzeldingen beschäftigt. Nun beschäftige scientia sich allerdings nicht mit Einzeldingen, sondern sie richtet sich auch bei Thomas ganz im Sinne der aristotelischen Kategorisierung auf das Allgemeine, Notwendige, "Ewige". Und doch schlägt Thomas hier eine Bresche für das Einzelne, Konkrete, Nicht-Notwendige (Kontingente), aus dem Erkenntnisfähigkeit erwachse, wenngleich natürlich (noch; das ändert sich erst mit dem Historismus im 19. Jahrhundert) mehr zum Zwecke einer Art "Philosophie in Beispielen". Die Gegenüberstellung von scientia divina und sacra doctrina bei Thomas ist insofern eine frühe Wurzel dessen, was uns beim späteren Gründervater der neuzeitlichen Wissenschaft, Giambattista Vico, in dessen Scienza Nuova ("Neue Wissenschaft") als das Gegenüber von philo-sophia und philo-logia begegnet und darauf aufbauend auch die Grundzüge des hermeneutischen Zirkels beschreibt, insofern das Allgemeine vom Besonderen her und das Besondere vom Allgemeinen her zu verstehen ist. Hier, in Thomas‘ Argumentationsgang, liegt die Wurzel nicht für eine Ausrichtung der Theologie am Vorbild der geometrischen Methode, sondern für die spätere Konstituierung der Theologie als Geisteswissenschaft, damit eben auch als historische Disziplin, wie es im ausgehenden 18. und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts dann unter dem Eindruck der Überlegungen Friedrich Schleiermachers vollzogen wurde.
Dies scheint im Artikel nur unvollständig berücksichtigt, insofern gar eine Reduktion der Theologie auf die anderen historischen Disziplinen vorgeschlagen wird.
In Folge rückt dann auch der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg in den Fokus. Dieser kann neben Karl Barth und Rudolf Bultmann als einer der großen evangelischen Theologen des letzten Jahrhunderts bezeichnet werden. Man sollte jedoch dabei nicht übersehen, dass sich mit den dreien auch jeweils unterschiedliche disziplinäre Ansätze und Eigenarten verbinden. Bultmann ist wohl die Anlaufstelle, wenn es um die (reale oder angebliche) "Entmythologisierung" der theologischen Überlieferung geht. Barth ist wohl der Kerygmatiker, d.h. Vertreter einer verkündenden Theologie. Damit zusammen gehen je unterschiedliche theoretische Ansprüche an die und praktische Konsequenzen aus der Theologie, die nicht unbedingt im Widerspruch, wohl aber in Kontrast zueinander stehen. Wenn Pannenberg nun unterscheidet zwischen einer allgemeinen philosophischen Theologie und einer konkreten kirchlichen Christologie, dann klingt da natürlich die bei Thomas grundgelegte Zweisamkeit von divina scientia und sacra doctrina nach; vor allem im Lichte des Verhältnisses von Mathematik und Physik im Zeitalter nach Newton, wo erstere das allgemeine theoretische Instrumentarium der letzteren bietet. Aber auch das heißt natürlich nicht, dass sich Theologie auf Philosophie und Christologie auf "historische Wissenschaft" reduzieren ließe, und schon zweimal nicht so nachlässig, wie es hier im Artikel übers Knie gebrochen werden soll: Dass es diesen Jesus als historische Person (!) gegeben haben mag, scheint in der historischen Forschung weitgehend unstrittig; der Umgang mit den Wunderberichten aus AT und NT betrifft in erster Linie die Frage der Schrift-Exegese, in zweiter Linie dann die Beziehung zwischen Theologie und Christologie; die Schriften des NT sind mitnichten "über mehrere Generationen hinweg mündlich überliefert" worden (hier wurden wahrscheinlich AT und NT verwechselt), sondern sie sind wenn nicht von Aposteln selbst (z.B. Paulus), so von deren Schülergeneration schriftlich fixiert worden (Lukas scheint wohl ein Schüler/Sekretär des Paulus, Markus einer des Petrus, und der Verfasser des Johannes-Evangeliums stammt wahrscheinlich aus dem Schülerkreis des Johannes); die Kanonisierung der biblischen Schriften lässt sich historisch nachvollziehen und ist weit weniger "willkürlich" als der Artikel implizieren möchte; vermeintliche oder reale Widersprüche der Evangelienberichte betreffen wieder die Exegese bzw. Hermeneutik.
So bleibt der Eindruck, Pannenberg - und nicht etwa der "entmythologisierende" Bultmann - sei vor allem deswegen ausgewählt worden, weil sich von diesem bequem zitierbare Aussagen fanden, an die die eigenen Vor-Urteile (im Sinne Gadamers) geheftet werden konnten.
Schließlich wird, last not least, als Kronzeuge noch Immanuel Kant, "der Alte aus Königsberg" (H. Lesch), in den Ring katapultiert, u.a. mit dem Verweis auf Raum und Zeit als Bedingung der Möglichkeit menschlicher (Sinnes-)Erkenntnis. Ich stecke nun, zugegeben, nicht mehr so tief in der Kant-Exegese wie noch vor ein paar Jährchen, doch die Darstellung im Artikel erscheint mir etwas schepps. Wenn Kant Raum und Zeit als "Bedingungen der Möglichkeit" menschlicher Erkenntnis nennt, dann bezieht sich das darauf, dass der Raum und die Zeit selbst sich der Anschauung zwar entzögen, dass sie ihrerseits aber als "innerer Sinn" (eindimensionale Zeit) und "äußerer Sinn" (dreidimensionaler Raum) Anschauung - bei Kant ein aktiver Prozess - überhaupt ermöglichen würden. Kurzum: Der Mensch (bzw. der menschliche Erkenntnis-Apparat) muss demnach immer schon zeitlich und räumlich sein, um sinnliche Erkenntnis überhaupt haben zu können. Raum und Zeit sind gewissermaßen eine Art von Formursache der menschlichen Beobachtung, welche wiederum den Zugang des Menschen zur Welt bereitstellt. Das schlägt einerseits den Bogen zu Isaac Newton: Kants Kritik der reinen Vernunft ist letztlich eine tiefe erkenntnistheoretische Verbeugung vor dem newtonschen Kosmos bzw. der newtonschen Physik insgesamt; Zeit und Raum als Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, als "innerer" und "äußerer Sinn", entsprechen direkt dem Newtonschen Diktum vom "Sensorium Gottes". Andererseits schwingt da natürlich auch der leibnizsche Deismus mit (Leibniz war bekanntlich Zeitgenosse und "Gegenspieler" Newtons), demnach "Gott" eine Art Chiffre für die Formursache der Welt sei, der "zureichende Grund", der sich in den Myriaden von individuellen Monaden verwirkliche.
So sehr wir Kants Erkenntnistheorie also als eine Art von Ausgleich zwischen Newtons Physik und Leibnizens Philosophie betrachten können, wird natürlich die Frage aufgeworfen, inwiefern die im newtonschen Kosmos verankerten Prinzipien der kantschen Erkenntnistheorie zu Zeiten einer nach-newtonschen Physik noch Geltung beanspruchen können. Können Raum und Zeit als "äußerer" und "innerer Sinn" in einem vier- oder höherdimensionalen Kosmos überhaupt noch Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis sein? Das alles fällt irgendwie unter den Tisch, wenn der Artikel über das Fehlen eines "Gottesmoduls" in den Gehirnen der Naturwissenschaftler/innen sinniert.
Ganz davon abgesehen besagt "Bedingung der Möglichkeit" eben nicht "Faktum der Wirklichkeit", sondern es drückt Potenzialität aus: So wie der Mensch gemäß Kant immer schon räumlich und zeitlich sein muss, um sinnliche Erkenntnis haben zu können, muss der Mensch gemäß der zitierten Aussage von Klaus von Stosch immer schon göttlich berührt sein, um göttliche Erkenntnis haben zu können. Möglich wäre demnach natürlich auch, göttlich berührt zu sein, aber keine göttliche Erkenntnis zu haben, so wie man nach Kant durchaus räumlich und zeitlich sein könnte, ohne eine sinnliche Erfahrung zu haben.
Zugleich kommt der Ausdruck "Bedingung der Möglichkeit" als berühmte Wendung auch noch bei einem anderen deutsch(sprachig)en Gelehrten vor, namentlich in Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Hiernach liegt die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis in der "ursprüngliche[n] Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt", was sich darauf bezieht, dass Mensch und Geschichte im Ursprung eins seien, nämlich als Beziehung zwischen Ideen und wirkenden (mechanischen, physiologischen, psychologischen) Kräften. Dies scheint der Aussage von Stoschs doch näher zu liegen als der Bezug zu Kant, v.a. da Humboldt in seiner Schrift explizit auf das Argument ex gubernatione rerum (einer der fünf Wege, die Thomas in seiner Summe der Theologie liefert) zu sprechen kommt. Passend dazu erscheint freilich auch der Bezug zur Logos-Theologie, den von Stosch hier explizit setzt. Demnach bedeutet der Bezug zur Bedingung der Möglichkeit in der zitierten Passage letztlich: Gott muss sich immer schon offenbart haben, damit der Mensch Gott erkennen kann.
Das verweist im Gesamten wieder auf das Beisammensein von divina scientia und sacra doctrina, insofern dabei nämlich - zumindest dem Anspruch nach - die eigenständige Suche des Menschen nach Erkenntnis im Lichte seiner natürlichen Vernunft auf die Selbst-Offenbarung Gottes trifft.
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