Dass sich in der Geschichte um Kain und Abel ein Konflikt in der frühen Kulturgeschichte widerspiegelt, mag richtig sein: hier der Nomade mit seiner Herde, dort der Sesshafte mit seinen Feldern. In der Logik der biblischen Erzählung dürfte es zudem nicht unerheblich sein, dass Abel - der vom Herrn angeschaut wird - "eines von den Erstlingen aus der Herde und von ihrem Fett" (Gen 4,4) darbringt: Er opfert Tierisches, ganz in Einklang damit, dass der Herr Adam und Eva mit Fellen ausstattet, ehe sie aus dem Paradies scheiden, und in direkter Entsprechung zum späteren Opfer im Jerusalemer Tempel. Kain hingegen bringt dem Herrn "ein Opfer von den Früchten des Feldes" (Gen 4,3). Hier mag wohl allerlei Naturreligion mitschwingen und damit auch auf einen ersten Glaubens- oder Religionskonflikt in der menschlichen Kulturgeschichte hindeuten: Einerseits das Opfer animalisch-aktiver Gaben, andererseits das Opfer vegetativ-reaktiver Gaben. Es ist dies auf die Spitze getrieben der (bis heute noch zu beobachtende) Konflikt zwischen "mythischer" und "wissenschaftlicher" Weltauffassung: Die anima der lebendigen Wesen ist zunächst einmal nur ein gedankliches Hilfsmittel, welches das Sichtbare mit Unsichtbarem erklärt, und damit den wahrgenommenen Gegenstand von einem davon unterscheidbaren und eigenständigen Begriff trennt.
Dem gegenüber steht die numinose Substanz des Mythos, in dem die numinosen Eigennamen die Funktion von allgemeinen Begriffen übernehmen: Gaia, Chronos, Demeter, Zephyr, Eos. Der Fleischverzehr steht insofern als Statussymbol auch dafür, dass der Mensch sich dieses Unsichtbare nutzbar machen kann, um so auch das Sichtbare zu seinen Gunsten und seinem Nutzen gemäß zu gestalten. Wenn Abel also beim Herrn für sein Opfer Ansehen findet, dann meint dies auch ebendas, was Bertold Brecht über die Wissenschaft formuliert hat:
"Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern."
Und wenn Kain seinen Bruder aus Missgunst und Neid erschlägt, dann spiegelt sich darin auch der heute noch existente Widerstand seitens einer mythischen Weltauffassung.
Es ist erstaunlich, wie diese Episode innerhalb des christlichen Mythos mit der Geschichte rund um diesen Jesus korrespondiert. Auch dort sind es die Sesshaften, die den Nomaden töten: Sie sitzen im Jerusalemer Tempel, in den Palästen der Statthalter und Tetrarchen, im Volk des römischen Reiches, und sogar an der Tafel eines Zimmermanns. Und sie töten einen umherwandernden Prediger, der von Gott als dem Vater spricht - und damit in der Tat eine patriarchalische Gottesbeziehung vertritt (sowohl im Sinne von "Gott der Väter" als auch im Sinne von "Gott als Vater").
Es sind zudem ebenjene Sesshaften, die sich fortpflanzen und die Zivilisation gründen. Hannah Arendt beschreibt z.B. sehr schön in ihrem Revolutionsbuch, dass menschliche Gesellschaften aus einem Akt der Gewalt hervorgehen, wie der Mord am Anfang der Zivilisation steht: Romulus erschlägt Remus, Kain erschlägt Abel - und auf Golgatha tötet der Mensch das Gute selbst, namentlich Gott. So viel Freiheit nimmt er sich nicht nur, nein: so viel Freiheit hat er. "Im Anfang war das Verbrechen", so beginnt der Prolog menschlicher Zivilisationsgeschichte. Was könnte weiter entfernt sein vom johanneischen "Im Anfang war das Wort"?
Wenn Rousseau nun davon ausgeht, dass die Gewalt dort losgeht, wo der Mensch Eigentum einzäunt, wo er haben will, dann korrespondiert dies direkt mit dem Narrativ aus Genesis 3: Auch hier will der Mensch haben, sich abgrenzen - und auch hier wird ein Zaun errichtet. Die Ironie im Genesis-Narrativ ist freilich, dass der Mensch sich infolge dieses Haben-Wollens außerhalb des Zaunes befindet, und nicht innerhalb. Auch Rousseau geht davon aus, dass der Mensch in eine Welt der Zäune hineingeboren wird, und ebendas ist ja die Projektionsfläche für seinen "edlen Wilden": Dass die Zivilisation, in die der Einzelne hineingeboren wird, ihn von seiner wahren Natur, seiner guten Natur entfremde, ihn korrumpiere und selbstsüchtig mache. Hier korrespondiert Rousseaus Anthropologie sehr deutlich mit der christlichen Erbsündenlehre, besagt sie doch nahezu dasselbe: Der Einzelne werde in eine Welt geboren, die durch Selbstsucht und Haben-Wollen gestaltet worden ist und die ihn von seiner wahren, seiner guten Natur entfremde.
Mit dem Blick auf den "edlen Wilden" nimmt Rousseaus Lehre jedoch eine sozusagen puritanische Wende (und steht damit in deutlicher Tradition zu seiner reformiert-protestantischen Herkunft): Sie sucht im Gegensatz zur christlich-biblischen Sichtweise die Überwindung dieser Entfremdung nicht jenseits, sondern innerhalb dieser Welt. Sie will die Zivilisation nicht hineinnehmen in das gute Leben, sondern die Zivilisation soll konsequent vom guten Leben getrennt, von vorn herein vermieden werden. So ist der zentrale Begriff der rousseauschen Philosophie auch nicht die Vernunft, sondern die volonté, der Wille. Dies allerdings auch nicht als volonté de tous, d.h. als Summe aller Einzelwillen, sondern als volonté générale, als allgemeiner oder Gesamtwille, der über den Partikularinteressen stehe und quasi instinkthaft vom Einzelnen wahrgenommen werde.
Um zum Ausgangspunkt, der Geschichte von Kain und Abel, zurückzukehren: Der Sesshafte soll sich demnach nicht fortpflanzen (dürfen), eben weil er den ungesühnten Mord auf seinen Schultern trägt; er verdient den Tod und hat zu sterben. Der christliche Mythos hingegen behauptet, dass der Mord, den der Sesshafte auf seinen Schultern trägt, gesühnt wurde - und dass der Sesshafte sich eben deshalb fortpflanzen kann, darf und soll.
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