Klar: Wenn man von vorn herein (den/einen) "Gott" ausschließt, dann kommt er nicht in der Bibel vor. Dann muss man freilich anderweitige Erklärungen und Begründungen finden - und in der Regel findet man sie auch. Ob das zugehörige Narrativ in sich stimmig ist ... das bliebe freilich zu diskutieren.
"Die Bibel sollte als das angesehen werden, was sie ist: eine von vielen Schriften der Menschheit."
Katholischerseits kann dem voll und ganz zugestimmt werden. Problematisch wird es in der weltanschaulich-philosophischen Diskussion erst dann, wenn man verlangt, die Bibel ausschließlich so anzusehen. Aber das wird sonst eigentlich von keinem Text verlangt: Jeder Text, den man konkret betrachtet, über den man sich speziell austauscht, wird aus den "vielen Schriften der Menschheit" herausgehoben - und die Gründe dafür mögen vielschichtig sein und von Text zu Text variieren, wie auch von den vorausgehenden Werturteilen des jeweiligen Diskutanten abhängen.
Man hat nun recht früh schon die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium als die "fünf Bücher des Mose" mit einem menschlichen Verfasser in Verbindung gebracht, ebenso wie die Sprichwörter oder das Buch Kohelet dem König Salomo zugeschrieben wurden oder die Psalmen dem König David. Und beim neutestamentlichen Kanon ist es ja ganz eindeutig, denn da wurden die einzelnen Schriften von Anfang an direkt auf bestimmte menschliche Verfasser zurückgeführt: Evangelium nach XY, Brief des A an B, Offenbarung des Z.
Die feste Verankerung in den "vielen Schriften der Menschheit" ist also bei der Bibel durchweg gegeben. Eine vor und außerhalb aller Zeit präexistente heilige Schrift, die ausschließlich von Gott selbst Wort für Wort verfasst wurde, gehört nicht zum (katholischen und orthodoxen) Christentum, sondern viel eher zum (orthodoxen) Islam oder zu manchen Strömungen des (ultraorthodoxen) Judentums; auch wenn es natürlich bei den Denominationen Gruppen geben mag, die an eine solche Art der Verbalinspiration der Bibel glauben.
Es wäre allerdings ein Fehlschluss, daraus nun ableiten zu wollen, dass deswegen ausschließlich Menschliches oder Menschengemachtes Gegenstand dieser Schriften sei oder sein müsse oder sein dürfe, demnach man alles Nicht-Menschliche lediglich als Chiffre für Phänomene aus der Menschenwelt zu lesen habe.
Ein schönes Exempel dazu liefert Hayden White mit seinem Blick auf Charles Darwins "Ursprung der Arten" - eine weitere von "vielen Schriften der Menschheit" - unter dem Gesichtspunkt literarischer Topoi. So verwendet auch Darwin bestimmte literarische Figuren, knüpft an Stilvorlagen an und bedient sich traditioneller Erzählmuster, um seine Naturgeschichte zu schreiben. Das alleine mag nun nicht sonderlich aufregend sein - natürlich bedient man sich des Instrumentariums eines Geschichtenerzählers, wenn und sofern man Geschichte schreibt (das macht ja auch sonst jeder, der von vergangenen Ereignissen berichtet).
Interessant wird es aber, wenn man sich die zeitlichen Umstände ansieht, in denen Darwin sein Werk geschrieben hat: Im 19. Jahrhundert, das aus den großen Revolutionen hervorging, die die frühe Neuzeit in die Moderne katapultierten. Die politische Ordnung war regelrecht umgewälzt worden, die tausendjährige Linie der römischen Kaiser in der Mitte Europas quasi "ausgestorben", und die bis dato als stabil und konstant empfundene Welt entpuppte sich als wandelbar, gar ständiger Veränderung unterworfen - man denke vor allem auch an die Revolutionen von 1830 und 1848. Da passt es nur allzu gut, dass das neue und wegweisende Werk der (ebenfalls neuen Wissenschaftsdisziplin) Biologie diesen Wandel und diese Instabilität der politischen Welt in sich aufnimmt und reflektiert.
So ergibt sich freilich auch die Funktion, die Darwins Werk erfüllt: Wenn nicht Konstanz und Stabilität das Grundmerkmal der natürlichen Welt sind, sondern Wandel und Veränderung, dann gibt es keinen Grund, über die neuerlichen Umwälzungen in der politischen Welt besorgt zu sein - denn derlei ist ja ganz natürlich. So nimmt die von Darwin eingebrachte Theorie die Angst vor dem Neuen, die Furcht vor Veränderung und trägt damit ihrerseits wiederum zu einer Stabilisation der jeweiligen Staaten und Gesellschaften bei.
Auf der anderen Seite kann es jedoch auch so weit gehen, dass das Neue, die Veränderung, die Umwälzung nicht nur nicht gefürchtet werden müssen, sondern herbeigesehnt werden können oder dürfen. Die Werke von Marx und Engels zeugen beispielhaft davon - denn beide äußerten die Hoffnung, dass ihr Programm das sozialwissenschaftliche Äquivalent zu Darwins natürlichem Artenwandel würde ("Sozialdarwinismus").
Heißt das denn nun, dass es gar keine Evolution/Deszendenz gibt, weil sich Darwins Theorie ganz natürlich aus den historischen Umständen erklären lässt?
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