Dienstag, 21. April 2015

Prima Causa und Kontingenzerfahrung

Das Irdische kann philosophisch als Kausalnexus aus sekundären Ursachen beschrieben werden - und wer darüber hinausblickt, der landet bei der prima causa. Natürlich ist das individualpsychologisch nicht notwendig: Schließlich kann man durchaus bei der Feststellung einer Torheit verharren.

Ihrem Wesen nach ist die erste Ursache unbestimmt, sogar mehr noch: unbestimmbar. Und doch lassen sich Aussagen darüber machen. Die östlich-orthodoxe Theologie in Anschluss an Gregorios Palamas unterscheidet zwischen der unerkennbaren Essenz und den erkennbaren "Energien"[*] der ersten Ursache, d.h. Gottes. Die negative Theologie, die auch im Westen praktiziert wird, benutzt andere technische Termini, drückt dennoch dasselbe aus: in dem, was sie hervorbringt, lässt sich die erste Ursache erkennen, auch wenn sie ihrem Wesen nach immer das Unbegreifliche war und ist und sein wird. Mit Bonaventura können wir sagen, dass die erste Ursache epistemologisch das erste ist, das wir erkennen (weil wir erkennen, dass wir nicht erkennen), chronologisch jedoch das letzte (weil uns jeder Versuch einer Bestimmung der ersten Ursache immer nur auf sekundäre Ursachen verweisen kann). Mit Eriugena können wir sagen, dass in der ersten Ursache alle sekundären Ursachen enthalten sind, und sie durch den Erkenntnisprozess aus der ersten Ursache überhaupt erst hervorgehen (von ihr überhaupt erst ihr Dasein erhalten). Es ist letztlich das, was nach Hegel als innerer Widerspruch der existenziellen Unmittelbarkeit bezeichnet werden kann, und das im Gedanken der Dreifaltigkeit - i.e. das Zusammensein aus Einheit und Vielheit - seine theologische Formulierung gefunden hat.

Der Clou daran: Das institutionalisierte Christentum lässt sich so völlig unabhängig von dieser Frage kritisieren, gutheißen, loben, verdammen oder sonst etwas. Der Schluss von Verfehlungen des institutionalisierten Christentums auf die Frage nach der prima causa ist genau genommen ein Fehlschluss, ein Kategorienfehler. Die erkennbaren "Energien", um die es Palamas geht, sind Gott selbst, also ungeschaffen, und damit der theologischen Fragestellung vorbehalten, während das institutionalisierte Christentum angefangen bei der Kirche über kirchliche Gemeinschaften bis hin zu heterodoxen Gruppierungen nicht nur der theologischen, sondern als geschaffene Instanzen durch die graduellen Charakterzüge vom mystischen Leib Christi über konkrete Manifestationen der Gemeinschaft der Gläubigen bis zu gesellschaftlichen Gruppen auch der soziologischen Untersuchung unterliegen und somit von ganz anderer Qualität sind.

Schnittmengen gibt es beim zuvor genannten - vor allem von Eriugena aus, der deswegen auf dem Index stand - zu Teilen des Panentheismus, gerade wenn die negative Theologie konstatiert, dass die erste Ursache "alles in allem, aber nichts von allem" sei. Da Eriugena vor der scholastischen Systematisierung schrieb, war und ist sein Vokabular nicht ganz so präzise wie das der Schulmänner, wodurch für den ungeübten Leser großes Potenzial zur Missdeutung von Eriugenas Theologie besteht; ähnliches lässt sich bei Anselm beobachten, sowohl bei seinem ontologischen Argument als auch bei der Frage nach der Satisfaktionslehre. Sympathisiert habe ich durchaus schon (und das auch intensiv) mit östlicher Religiosität, v.a. dem Advaita Vedanta. Das wesentliche Problem, das ich jedoch benennen würde, wäre, dass die östlichen Religionen zwar als Lebenshilfe-Philosophien funktionieren mögen, in ihrem Anspruch jedoch den konkreten Menschen in seiner Kontingenz-Erfahrung nicht ernst nehmen: Den Menschen, der existiert, obwohl er nicht aus innerer Wesensnotwendigkeit heraus existiert, gibt es dort nicht. Er ist entweder aus innerer Wesensnotwendigkeit da (im weitesten Sinne als notwendiger Ausfluss des dharma im Rahmen des samsara), oder aber er ist überhaupt nicht da (im weitesten Sinne als [Selbst-]Täuschung) - je nachdem, ob man eher dem brahman oder dem anatta zugeneigt ist. Es ist - auch geistesgeschichtlich betrachtet - ein, wenn nicht das Alleinstellungsmerkmal der christlichen Tradition, dass sie an dieser Stelle das Sowohl-als-auch hinbekommt und damit den konkreten Menschen als vollständig existent anerkennt, jedoch gleichzeitig zugeben kann, dass es ihn nicht aus eigener Wesensnotwendigkeit gibt. Zu allem Überfluss ist nun auch noch genau dieses Sowohl-als-auch der Punkt, an dem der konkrete Mensch in Beziehung steht zur ersten Ursache, zum Urgrund des Vorhandenseins, der aus innerer Wesensnotwendigkeit heraus existiert. Mehr noch: an dem ein konkreter Mensch sogar dieser Urgrund des Vorhandenseins ist. In der Sprache des Alltags ausgedrückt: Es zieht mich zum Christentum, weil ich in der Person Jesu Christi Gott finde. Darum zieht es mich nicht (in erster Linie, wie ich hinzufügen muss) zu einer Form von Buddhismus oder Pan(en)theismus.

Meines Erachtens hat der Atheismus ebenfalls in der Kontingenzerfahrung seinen Ursprung, insofern er nach Sartre sagen kann, dass wir zur Freiheit verdammt seien. Ich würde jedoch sagen, dass der Atheismus im Gegensatz zu den Philosophien und Religionen und Spiritualitäten, die den Menschen nicht als existent und kontingent anerkennen können, den Menschen nicht als existent und kontingent anerkennen will. Das meine ich nicht abschätzig, sondern durchaus mit einer gewissen Bewunderung. Atheismus ist insofern das Sich-nicht-zufrieden-geben mit dem, was ist, wie es ist. Die Existenzphilosophie geht dabei den Weg, den existenten Menschen zum (einzig) notwendigen Urgrund zu erheben, und in ihm damit genau den inhärenten Widerspruch herauszustreichen, den Hegel für die existenzielle Unmittelbarkeit konstatiert hat: Sein und Nichts bzw. mit Sartre An-sich-sein und Für-sich-sein. Andererseits steht der Materialismus, der den existenten Menschen nicht als notwendigen Urgrund, sondern als Emanation von Notwendigkeit beschreibt - eben durch die Reduktion auf natürliche Notwendigkeiten (wie sie physikalisch z.B. vermittels Mathematik formuliert werden können), als unabwendbares Glied in einer Kette mechanischer Abläufe. Dabei erfährt der Begriff der Determination bzw. Bestimmung einen Bedeutungswandel von "Konkretisierung" hin zu Prädestination bzw. Vorher-Bestimmung.

Wo die Existenzphilosophie sich ganz bewusst (willentlich) in die Absurdität stellt, und den Menschen so als (notwendigen) Sinnstifter postuliert, da propagiert der Materialismus Absurdität und nimmt dem Menschen letztlich seine (eigenständige) Existenz weg, indem er diese durch (sinn-lose) Notwendigkeit überlagert.

Der Atheist als Individuum muss nun die Überzeugungskraft der Logik nicht ablehnen; im Gegenteil kann er mit Konsequenz auf Nietzsche verweisen und sagen, dass gerade Logik Kraft zur Schaffung einer Überzeugung hat - ob die dann am Ende jedoch wahr ist, stünde auf einem anderen Blatt (nicht umsonst hat Nietzsche dem Verdacht den Vorzug vor der Vernunft gegeben). Der Atheist als Individuum muss insofern gar nichts. Er kann sogar den Atheismus verlassen oder inkonsequent leben. Es ist jedoch so, dass die Aussage "Gott ist tot" mehr nach sich zieht als nur das Verneinen irgendeiner Instanz namens "Gott". Nietzsche hat dies radikal zu Ende geführt in seinem Übermenschen, der jenseits von Gut und Böse stehe. Das meint z.B. nicht bloß moralischen Relativismus, sondern vollständige Immoralität, die nicht einmal mehr dem Begriff der Moral(ität) eine positive oder negative Bedeutung zuspricht.

Es ist demnach z.B. bezeichnend für die Naivität oder Inkonsequenz des angeblich atheistischen Rationalismus der Aufklärung, dass ein Kant, der alle Gottesbeweise zertrümmert, dennoch einen eigenen Beweisgang antritt, und dann aus den Notwendigkeiten der praktischen Vernunft einen sog. "moralischen Gottesbeweis" zimmert.

Mit dem "Urknall", der an dieser Stelle gerne eingeworfen wird, ist das nun am Ende so eine Sache - der wurde lange Zeit deswegen kritisiert, weil er zu sehr nach Schöpfung riecht (und zuerst formuliert wurde von einem Kerl mit Römerkragen, namentlich dem katholischen Priester Georges Lemaître), und weil er ewige - im Sinne von überzeitliche oder unzeitliche - Materie vernünftig bestreitet. Erste Ursache kann der "Urknall" insofern nicht sein, als die erste Ursache unzeitlich bzw. überzeitlich ist, während der Urknall einen Ausdruck für sich ereignende Raumzeit darstellt. Der "Urknall" mag damit allerhöchstens Anfang der Physik sein. Und falls Physiker wie z.B. Lawrence Krauss sinnvoll darlegen können, inwiefern der Urknall zu einem Quantenvakuum o.ä. kontingent ist, dann stünde er nicht einmal am Anfang einer physikalischen Kausalkette.

 

[*] Für die "Nicht-Griechen", d.h. westkirchlichen oder lateinischen Christen, möglicherweise ein missverständliches Wort - am besten wird das wohl als "Wirkweisen" übersetzt.

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