Donnerstag, 23. April 2015

Xenophons Sokrates: Materialismus und das Problem des Neuen

Ein interessanter Punkt, an dem man mit Xenophons Sokrates[*] gegen Hume kommen kann: Wenn anerkannt wird, dass der Mensch aus und mit den Elementen ein Dasein besitzt, die auch die Welt konstituieren, dann ist das insofern so, als er eine kleine Menge dieser Elemente in seinem Körper beherbergt, während eine unendlich größere Menge davon in der Welt für das Dasein der Welt sorgt. Spannend wird dann die Frage, ob man einen Analogieschluss durchführen darf, wenn anerkannt wird, dass der Mensch aus und in der Vernunft ein Dasein besitzt. Heißt dies, dass er in sich eine kleine Menge dieser Vernunft beherbergt, während eine unendlich größere Menge davon in der Welt für deren Dasein aus und in der Vernunft sorgt?

Physikalisch, chemisch und biologisch lässt sich der Mensch ebenso beschreiben wie der Rest der Welt, insofern er sein Dasein aus und in Atomen, Molekülen oder Genen besitzt. Carl Sagan meint, we are all stardust. Hansjörg Hemminger meint, in unseren Adern fließe das Wasser der Ur-Ozeane. Und Richard Dawkins meint, wir stünden am (vorläufigen) Ende des non-random survival of random mutation. Es ist letztlich das Problem des Neuen, das hier auf den menschlichen Intellekt angewendet wird. Damit hat vor allem ein materialistischer Ansatz Schwierigkeiten, insofern er das Neue als bloße Neu-Konfiguration des Alten begreift: Der menschliche Intellekt kann so nur als Neu-Konfiguration eines (ontologisch) früheren Intellekts begriffen werden, wie der menschliche Körper als Neu-Konfiguration von Physikalität und chemischer Zusammensetzung und Belebtheit begriffen wird. Es stellt sich also gerade vor dem Hintergrund des Materialismus diese Frage. Dabei landen wir gerade nicht beim Kreationismus, sondern eher beim Panentheismus, zumindest aber bei der Diskussion um die averroistische Einheit des Intellekts.

Das Problem eines weltanschaulichen Materialismus: Er kann mit dem Einzelfall nichts anfangen. Das einzelne Leben ist materialistisch betrachtet lediglich eine vorübergehende Konfiguration von Atomen, Molekülen, Genen, die als Folge dieses Prozesses nicht verschwinden, sondern nurmehr in neue Konfigurationen überführt werden. Kurzum: Wenn das individuelle Leben nurmehr ein Bündel akzidenzieller Instanzen ist, dann spielt der singuläre Zustand zu einer gegebenen Zeit keine Rolle, da ihm keine eigenständige Substanz, kein selbständiges Dasein zukommt.

Die Abiogenese ist dabei in der Tat kein Problem für den weltanschaulichen Materialismus: Schließlich steht sie an der Schnittstelle zwischen Chemie und Biologie und erlaubt es so, das eine im Extremfall auf das andere zu reduzieren bzw. zumindest unter dem Paradigma des anderen zu subsumieren. Das ist nun aber weder der Punkt, an dem der weltanschauliche Materialismus (s)ein Problem hat, noch ist es der Punkt, den Xenophons Sokrates anspricht.

Das Problem des Materialismus ist schlichtweg die Frage nach dem Neuen, die dieser nur als Neu-Konfiguration des Alten denken kann. Konkret: Der weltanschauliche Materialismus muss vermeintlich neue Phänomene auf alte Prinzipien bzw. Wirkweisen zurückführen und kann dadurch mit Einzigartigkeit oder Individualität nichts bis kaum etwas anfangen (immerhin kann er ja versuchen, sie auf zuvor Genanntes zurückzuführen). Der Knackpunkt des angeblich individuellen Lebens besteht nun darin, dass es materiell betrachtet nichts Besonderes ist, sondern nur eine von vielen Konfigurationen, die im Gesamten der Natur auftreten. Notwendig für eine Individualität wäre ein Prinzip, das der jeweiligen Konfiguration zugrunde liegt und ihr Eigenständigkeit verleiht: eine Substanz, wie Hume sich ausdrückt, oder ein atman, wie es in Fernost heißt. Da dieses Prinzip der materiellen Konfiguration jedoch zugrunde läge - also ontologisch früher bestünde -, ließe es sich nicht auf die materiellen Wirkweisen reduzieren und so aus ihnen heraus erkennen. Daraus folgt nun der Schluss, dass es so ein Prinzip nicht gibt (anatta, wie der Buddha sagt). Und so ist das individuelle Phänomen nicht eigenständig existent, sondern nur ein Bündel aus akzidenziellen Instanzen, die sich in einer vorübergehenden Konfiguration befinden. Das Besondere verschwindet damit vollständig im Allgemeinen.

Der Punkt, auf den Xenophons Sokrates nun abzielt, betrifft die menschliche Vernunft, seinen Intellekt. Wenn dieser als vorhanden anerkannt wird - und selbst Hume tut dies ja, insofern er ihm instrumentellen Charakter zuspricht -, dann wirft dies die Frage nach einem ontologisch früheren, also allgemeinen Intellekt auf, als dessen besondere Ausformung bzw. konkrete vorübergehende Konfiguration der individuelle menschliche Intellekt verbucht werden kann.

Wenn der Intellekt erst durch die Evolution hervorgebracht würde, dann wäre er den materiellen Wirkursachen ontologisch nachgeordnet. In Folge könnten die materiellen Wirkursachen nicht innerhalb der Modalitäten des Intellekts begriffen werden, so dass er nicht einmal mehr den humeschen Instrumentalcharakter besäße. Kurzum: Der Intellekt wäre ebenfalls substanz-los, also anatta - es gäbe ihn schlichtweg nicht. Damit verlöre jedoch auch die Evolutionslehre als materielle Erklärung innerhalb der Modalitäten des Intellekts ihre Aussagekraft.

Daraus folgt, dass der Intellekt als qualitativ verschieden von den (sonstigen) materiellen Wirkursachen begriffen werden muss. Implizit wird dies auch seitens des Materialismus anerkannt, insofern er von der intelligiblen Welt ausgeht - also von der Welt als begreifbar in den Modalitäten des Intellekts.

Dies hat zunächst auch nichts mit irgendeiner katholischen Lehre zu tun, sondern führt unmittelbar zur Überlegung, einen allgemeinen Intellekt als eigene materielle Wirkursache zu postulieren. Es weist damit zunächst einmal unmittelbar auf monistische Ansätze wie den Averroismus (der den konkreten menschlichen Intellekt als einfache Manifestation des allgemeinen Intellekts sieht) oder Spinozas Gott als natura naturans (dessen inhärente Denknotwendigkeit die natura naturata hervorbringt).

 

[*] Sokrates zu Aristodemos: "Solltest du aber glauben, sonst sei nirgends etwas Vernünftiges? Im Bewußtsein, daß du nur einen kleinen Teil Erde in deinem Körper hast, von der soviel vorhanden ist, und einen kleinen Teil Feuchtigkeit, von der es soviel gibt? Wenn du überlegst, daß dein Körper auch von allem anderen, was in großen Mengen vorhanden ist, jeweils nur einen winzigen Teil besitzt? Die Vernunft aber allein, die solltest du durch glücklichen Zufall irgendwie erhascht haben, indem sie sonst nirgends vorhanden ist! Die ungeheuer großen und unzähligen Himmelskörper befinden sich, wie du glaubst, durch einen unverständlichen Zufall in so guter Ordnung?" - überliefert bei Xenophon, Memorabilia I 4. Zitiert nach: Bromand, Joachim - Kreis, Guido (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1946), 4. Auflage, Berlin 2013, S. 646.

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