Samstag, 28. Oktober 2023

Tierschutz und Lebensschutz

Fotografie einer toten Wespe, die auf einem hellen Untergrund liegt

Bisweilen treibt der Diskurs auf den "sozialen" Medien nicht nur besondere Blüten, sondern es finden sich auch inhaltlich interessante Auseinandersetzungen. Eine dieser Auseinandersetzungen betrifft ethisch-moralische Fragen, und hierbei werden speziell Lebensschützerinnen ganz gerne mit dem Anspruch konfrontiert, auch das Leben von Tieren umfassend zu bewahren. Dieser Anspruch wird zumeist nicht allgemein gestellt, sondern inhaltlich spezifisch zugeschnitten auf den Lebensschutz. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander auf.

Darum muss gefragt werden: Besteht denn eine Verknüpfung zwischen Tierschutz und Lebensschutz, insofern letzteres das erstere voraussetzen oder beinhalten muss? Muss man notwendig vegan sein, um "pro life" sein zu können?
Oder auf die Spitze getrieben: Darf man keine "Pringles" essen, wenn man die vorsätzliche Tötung ganz junger Menschen ablehnt?

Der Argumentationsgang, den Befürworterinnen einer auf diese Art begriffenen Verbindung vorbringen, lautet wie folgt:

"Pro life" ist für Leben; es muss insofern hinsichtlich der Nahrungsaufnahme Gewalt, Elend und Tod vermieden werden, als es andernfalls "pro death" wäre.
Die offensichtliche Option "pro life" ist es darum, vegan zu sein, denn Veganismus ist für Leben.

Nun ist Süßmolkenpulver, das für manche Lebensmittel wie bspw. "Pringles" verwendet wird, nicht vegan. Wer also gegen Abtreibung ist, darf deshalb keine "Pringles" essen.

So beherzt diese Argumentation auch in verschiedenen Formen vorgetragen werden mag - der Haken liegt in der Bedeutung der Formel "für Leben". Oder genauer: Der Haken liegt daran, dass weder Veganismus noch "pro life" undifferenziert "für Leben" sind.

Das Label "pro life" lässt sich in einem engen und einem weiten Sinne fassen: Im weiten Sinne bedeutet es den Schutz des menschlichen Lebens von seinem natürlichen Anfang bis zu seinem natürlichen Ende. Im engen Sinne bedeutet es den Schutz des Lebensrechts eines ungeborenen Kindes gegenüber dem Lebensentwurf der Mutter; dieser erhält seinerseits unter dem Etikett "pro choice" den Vorzug.
Die verschiedenen "pro life"-Positionen speisen sich wiederum aus ganz unterschiedlichen Grundlagen: Die Bandbreite kann hierbei ausgehend von philosophischen Konzepten der Menschenwürde über juristische Bezüge hinsichtlich Menschen-, Grund- und Bürgerrechten bis hin zu demographischen Überlegungen und Bevölkerungsmathematik reichen. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit von und für "pro life" besteht jedoch (fast immer) im Anspruch, den Schutz des spezifisch Menschlichen sowohl gegenüber dem un-menschlichen, d.h. gegenüber Konzeptionen von Barbarei in axiologischer und praxeologischer Hinsicht, als auch gegenüber dem nicht-menschlichen, d.h. gegenüber Konzeptionen von Umwelt in biologischer wie soziologischer Hinsicht, zu gewährleisten. Das kann letztlich zu einem gewissen Grad erhellen, warum "pro life" politisch real oder vermeintlich vor allem in der Nähe zu konservativen Ansätzen steht.

Der Veganismus ist demgegenüber anders gelagert: Formell eigentlich eine Norm für Konsum und Ernährung, liefert er in seinem materiellen Kern jedoch auch ein ethisch-moralisches Programm. Als solcher steht er in einer Art Mittelposition zwischen dem Vegetarismus und dem Frutarismus: Er ist strenger als der Vegetarismus, der unterschiedliche Erzeugnisse von und aus diversen Lebewesen erlaubt und damit in bestimmten Grenzen auch die Tötung und den Verzehr bestimmter Tiere. Aber er ist nicht so streng wie der Frutarismus, der nur den konsequent schadlosen Konsum von bestimmten Teilen pflanzlicher Lebewesen zulässt (z.B. Fallobst).
Der zentrale Grund für den Tierschutz wird durch den Veganismus üblicherweise in den Tieren selbst verortet: Es ist dafür nicht der bloße Status als Lebewesen entscheidend, denn schließlich fallen auch Pflanzen und Pilze unter die Kategorie "Leben" - ersteres gilt als vegan, zu letzterem gibt es zumindest eine Diskussion innerhalb der veganen Bewegung. Die Schutzwürdigkeit der Tiere wird durch ihren Status als empfindungsfähiges Leben definiert, und darum dürfen Tiere nicht gequält, misshandelt, ausgebeutet oder getötet werden. Unter dem Aspekt der Empfindungsfähigkeit werden in veganer Perspektive schließlich andere spezifische Differenzen, v.a. zwischen Mensch und Tier, aufgehoben. Das kann wiederum eine politisch reale oder vermeintliche Nähe zu sozialistischen Ansätzen beleuchten.

Mit Blick auf diese Differenzierungen ergeben sich zwei Einsichten:

Zum einen ließe sich durchaus ein Argument zimmern, demnach "pro life" notwendig "pro choice" voraussetzen oder beinhalten muss. Notwendige Bedingung hierfür wäre eine monistische In-Differenz in Bezug auf Lebens-Recht und Lebens-Entwurf beim Menschen (der Begriff "Indifferenz" wird hierbei im Sinne einer Aufhebung von spezifischen Differenzen verwendet, nicht im Sinne des Alltagssprachgebrauchs als anderes Wort für "Desinteresse"). Beide Optionen setzen sich ohne vorgenommene Differenzierung zwischen Recht und Entwurf schlicht "für Leben" ein, und darum kann das eine als Bestandteil des anderen gefordert werden. So können Lebens-Recht und Lebens-Entwurf dergestalt ineinander übergehen, dass der Lebens-Entwurf immer schon Bestandteil des Lebens-Rechts sein muss, während das Recht seinerseits kontingent zum Entwurf steht.
Dass ohne solch eine Differenzierung jedoch der Unterschied zwischen Da-Sein und So-Sein - oder ins Politische gewendet: zwischen der existenziellen Freiheit und der essentiellen Freiheit - verwischt oder übergangen wird, stellt sich dann als Problem dar: Es besteht sowohl hinsichtlich des menschlichen Person-Seins als auch mit Blick auf ein modernes Gemeinwesen, das dem Mensch-Sein angemessen sein soll, die Notwendigkeit, entsprechend zu differenzieren. Schließlich bedeutet menschliches Person-Sein immer auch Vorhandensein als eigenständige Beziehung, und dies setzt in fast schon banaler Weise auf das Prinzip agere sequitur esse auf: Handeln folgt Sein.
Weitergehend fällt zudem ein weiteres Problem ins Gewicht: Wenn der Lebens-Entwurf das (einzig) Entscheidende ist, dann muss im größeren Zusammenhang das Verhältnis zwischen Mensch und Tier in einem ganz engen Sinne radikal anthropozentrisch gedacht werden. Namentlich müssten sich jegliche Tierrechte dem jeweiligen menschlichen Lebens-Entwurf strikt unterordnen, schließlich handelt es sich dabei um eine exklusiv menschliche Kategorie. Damit würde die Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier als empfindungsfähiges Leben bedeutungslos. Der Veganismus pocht jedoch auf eine hierin liegende Bedeutung.

Eine entsprechende monistische Indifferenz erscheint damit in sich, an sich und für sich innerhalb dieser Diskussion nicht tragfähig. Das führt zur zweiten Einsicht:

Voraussetzung der Sichtweise, dass empfindungsfähige Lebewesen schützenswert sind, ist ein Konzept von Würde, das diesen Tieren als empfindungsfähigen Lebewesen selbst innewohnt. Durch ihre Empfindungsfähigkeit übersteigen Tiere, und mit ihnen der Mensch, z.B. die bloße Vegetationsfähigkeit pflanzlichen Lebens. Es geht hierbei letztlich nicht um die Begründung eines Besonderen aus einem Allgemeinen heraus: Nicht das bloße Leben wird als schützenswert gesetzt, sondern die Empfindungsfähigkeit als eigene Qualität.
Ginge es rein um die Begründung des Besonderen aus einem Allgemeinen heraus - bspw. insofern der besondere Schutz menschlichen Lebens sich aus einem allgemeinen Tierschutz ableitete -, so müsste weiter gedacht prinzipiell einer Variante des Frutarismus der Vorrang sowohl gegenüber "pro life" als auch gegenüber dem Veganismus gegeben werden; denn unter dem Aspekt des Lebewesen-Seins lassen sich Tiere in eine gemeinsame Kategorie mit Pflanzen und Pilzen einordnen. Der besondere Vorwurf des Speziesismus, der gegenüber einer besonderen Menschenwürde im Vergleich zu einer allgemeinen Tierwürde erhoben wird, müsste auf diese Weise konsequent überführt werden in den allgemeineren Vorwurf eines Generismus oder gar Domänismus, welcher Eukaryoten gegenüber Archaeen und Bakterien einseitig bevorzugt. Entsprechend wäre der Veganismus nicht weniger willkürlich als der Vegetarismus.
Als empfindungsfähige Lebewesen haben Menschen wiederum einen Stand, der aufgrund der spezifischen Bedingungen des Mensch-Seins noch darüber hinaus geht, da ihnen zusätzlich die Fähigkeit zur Vernunft innewohnt. Damit wird die Würde, welche aus der Empfindungsfähigkeit abgeleitet wird, nicht aufgehoben, sondern überstiegen - und zwar in analoger Weise zur Empfindungsfähigkeit der Tiere gegenüber der Vegetationsfähigkeit von Pflanzen.

Auf diese Weise erschließt sich, dass Ansätze zur Begründung einer Tierwürde notwendig immer schon Ableitungen von Ansätzen zur Begründung der Menschenwürde sind, da hierbei (a) qualitative und nicht mengentheoretische Kriterien normativ gedeutet werden und (b) seitens menschlicher Akteure auf dieser Grundlage spezifische Gemeinsamkeiten festgestellt und in menschliche Handlungsnormen integriert werden.

Ausgangspunkt hierfür sind wiederum materiell messbare Vorgänge, die von menschlichen Akteuren als Empfindungsfähigkeit gedeutet werden; und dies bindet den Zuspruch von Würde immer schon an materiell messbare Phänomene unabhängig von deren eigener Fähigkeit zur Selbst-Deutung. Damit muss sich im Rahmen einer kohärenten Argumentation die menschliche Würde auf alle materiell messbaren Einzelphänomene (d.h. Exemplare) der Species Homo sapiens erstrecken - auch und gerade wenn diese Exemplare keine entsprechende Selbst-Deutung vollziehen können. Daraus fließt schließlich die Verpflichtung, auch und gerade diese Träger der Würde zu schützen, was dann wiederum zuallererst deren Lebens-Recht betrifft.

Das heißt am Ende: Wer gegen Abtreibung ist, darf natürlich (weiterhin?) "Pringles" essen, denn Veganismus ist weder notwendige Grundlage noch notwendige Voraussetzung noch notwendiger Bestandteil von "pro life".
Es verhält sich tatsächlich viel eher umgekehrt: Veganismus muss immer schon eine gewisse "pro life"-Position einnehmen, sofern er nicht in individuelle Willkür, in ein vegetarisches Laissez-faire oder in einen frutarischen Rigorismus umkippen soll.

Oder ganz pointiert: Tierschutz braucht Lebensschutz.

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